Olá!

Es ist schon etwas länger her, seit ich von den letzten Ereignissen berichtet habe. Ihr seid ja gar nicht mehr auf dem neusten Stand. Das müssen wir schleunigst ändern. Es ist viel passiert in unserem kleinen Reiseuniversum. Wo fange ich an zu erzählen? Am besten bei den Freunden, die um Weihnachten am meisten Stress um die Ohren hatten, bei den Hoppels in Celle.

Inzwischen ist das Hochwasser im Keller verschwunden. Die Luna und der Erik sind wieder in ihre alte Behausung im Garten gezogen. Schon an dieser Formulierung bemerkt der aufmerksame Leser die Tragik. Hatten wir nicht alle wundervolle – und dazu überaus praktikable – Vorschläge eingereicht, wie sich das neue Zuhause in ein schmuckes Eigenheim mit Stil und Wohlfühlcharakter ausgestalten ließe? Es waren architektonisch sehr interessante Modelle darunter. Aber was macht die Family? Sie ignoriert das alles, sie schleppt stattdessen die damals gerettete Umzäunung samt Holzkiste und Strohbelag nach draußen, baut alles originalgetreu wieder auf und sagt: „Hier habt ihr euer Zuhause, jetzt könnt ihr wieder einziehen.‟ Wir waren total empört. So eine Rücksichtslosigkeit. Statt die Chance zu nutzen, nachdem sowieso der ganze Garten nach dem Hochwasser verwüstet war, dem Erik und der Luna eine größere und repräsentativere Bleibe zu bauen, kümmerten sich ihre Leute um den piefigen Keller, damit der wieder trocken würde. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Dass die beiden Kaninchen wochen-, ja, monatelang im Haus hatten vegetieren müssen zwischen all den Firmensachen, den Kisten voller Push-Pullover, dem Büromaterial und dem Menschenmief, der sich unweigerlich überall ausbreitet, wo sie gehen und stehen, das hat man offenbar für selbstverständlich gehalten. Kein Wort des Dankes, kein Wort des Bedauerns und erst recht kein Wort der Wiedergutmachung. In Krisenzeiten wie diesen merkt man, wo unsereiner steht. 

Klarer Fall, kein Wasser mehr zu sehen in Celle
 
 
Aber immerhin hat die Family Lunas Examen im Januar gebührend gefeiert. Damit meine ich nicht die dolle Fête mit uns allen, darauf komme ich später noch. Man hat die frisch gebackene Reise-Masterin und ihren Ehemann zum Essen ausgeführt. Luna hat dazu extra eine Halskette mit einer Weltkugel als Anhänger geschenkt bekommen, als Symbol ihrer künftigen beruflichen Tätigkeit. Und der Erik hat dazu die passenden Ohrstecker spendiert, auch in 875er Gold. Die Fendy findet das Ensemble todschick, wenn auch ein wenig zu unauffällig bei Lunas großen Löffeln und dem flauschigen Dekolletee, wo alles darin verschwindet, was zart herumbaumeln sollte. Aber was soll's, Wertanlage ist Wertanlage.
 
Zum Essen ging's zu einem Inder. Dort wurde das frittierte Gemüse in einer Curry-, oder war's Kurkuma?, -soße serviert. Etwas sehr exotisch, fand der Erik, und die ungewohnten Gewürze haben ihm tagelangen Dünnschiss beschert. Trotzdem soll es ein sehr würdevoller Abend gewesen sein: hübsch gedeckte Tafel mit leiser Klimpermusik im Hintergrund, diskret heranhuschende Kellner, anregende Gespräche, viele Toasts (Champagner!) auf die erfolgreiche Absolventin und eine insgesamt aufgeräumte und stolze Family. Man beachte, dass es damals im Januar noch gar nicht lange her war, dass man anlässlich des Hochwassers im Gartenhäuschen versteckt unter Stroh Lunas Motorrad gefunden hatte. War das ein Aufstand gewesen! Woher dieses Höllending stamme, wer es bezahlt habe, ob die Luna etwa darauf gefahren sei, ob sie nicht ganz dicht wäre, damit ihr Leben zu riskieren, und – darauf komme man ja jetzt erst! – ob sie etwa heimlich die Fahrschule besucht habe, um den Führerschein zu machen? Pfui, alle ihre Lieben so zu hintergehen! Zu lügen, was das Zeug hält, und allen, die es soo und nochmals sooo gut mit ihr meinen, zu erzählen, sie ginge in die Volkshochschule zum Häkelkurs, während sie in Wirklichkeit … na, habe man da Worte? Man sei enttäuscht, schwer enttäuscht. Und natürlich werde man augenblicklich zusehen, dass das Ding aus dem Haus komme. Das Motorrad müsse natürlich verkauft werden.
„Erik! Sei ihr behilflich!‟

Oh-ha. Da half kein Flehen und Flennen mehr. Die Chefs blieben hart. Auch der Hinweis, dass der Erik ja mit seinem Pött-pött-pött unterwegs sei und sich niemand darüber aufrege, änderte nichts an dem Befehl: Das Ding musste weg. Ein Motorrad habe zwei Räder und ein Pött-pött-pött drei. Das sei der entscheidende Unterschied: lebenserhaltend. Basta. Inzwischen steht das Motorrad bei uns im Keller. Natürlich haben wir der Putze nichts davon gesagt. Sie regt sich sonst unnötig auf. Auch Lunas Family ist der Meinung, dass der Verkauf geglückt sei. Vorsichtshalber haben wir einen entsprechenden Betrag aus unserer Reisekasse entnommen, damit das Geld einmal kurz vorgezeigt werden konnte. Nun ist die Generalität in Celle beruhigt und die Luna kommt öfter bei uns vorbei, um ein paar Runden zu drehen. Jetzt im Frühjahr, wenn's schön warm und sonnig ist, macht das ja auch viel mehr Spaß. Allerdings wundern sich manche Leute, warum die Luna neuerdings so oft bei uns auftaucht. Gerüchte gehen um (Taubentratsch), dass wir beide was miteinander hätten. Ha! Ich lach mich tot. Ich und die Luna. Geh mir fort. Noch ein Weib kommt mir nicht ins Haus. Außerdem würde mich der Erik bestimmt krankenhausreif prügeln. Der hat's nämlich faustdick hinter den Ohren, der säuselnde Schisser. Alles nur Fassade. Neuerdings hat er Höhenflüge, schwafelt was von Monte Carlo und dass er uns alle dazu einladen würde. Aber das ist noch mal eine andere Geschichte, davon später mehr.

Jedenfalls ist in Celle inzwischen wieder Alltag eingekehrt. Nicht zuletzt beigetragen zu der erfreulichen Entwicklung hat auch die Tatsache, dass der Erik seine Push-Kollektionen neuerdings im billigen Ausland produzieren lässt. Ganze Heerscharen von Maulwurffrauen sitzen in rumänischen Erdlöchern und stricken im Akkord. Das sei billiger, als daheim die Chefin damit zu betrauen. Man denke daran, dass sie im vorigen Jahr zu Unzuverlässigkeit neigte. Am Ende war sie bekanntlich in einer REHA-Einrichtung gelandet. Totalausfall. Geschäftlich betrachtet eine Katastrophe. Nun ist sie wieder genesen und aufgepäppelt und kann sich anderen Dingen widmen, leckeren Gemüsegerichten beispielsweise. So hat der Erik jetzt zwar auf der einen Seite eine höhere finanzielle Belastung durch die Fremdvergabe der Produktion, aber unterm Strich ein stressfreieres häusliches Ambiente. Das sei es ihm wert, meint er. Nur dass jetzt regelmäßig die LKW bis vor die Haustür donnern und stapelweise Kartons in den – wieder trockenen – Keller getragen werden, verursacht noch ein wenig Unmut. Aber: Wo gehobelt wird, tritt man auch in Späne, nicht wahr? Der Erik ist da absolut tiefenentspannt.
 
Dergleichen kann man leider aus schleswig-holsteinischen Landen nicht berichten. Bei der Firma „Ex & Hopp‟ hängt der Firmensegen schief. Zwar befindet sich der Firmenchef selbst augenblicklich in einer heiteren Grundstimmung, da er beschlossen hat, im Sommer wieder eine Runde „Bay Watch‟ im Malibu einzulegen, und die Vorbereitungen (Stretchübungen, Muskelaufbau, Müsli und Eiweißshakes) gut vorankommen, doch das Personal macht Ärger. Bekanntlich leitet Jack die Filiale auf dem Pferdehof und der Lütte Emil ist sein Assistent. Nun ist der Luke dahintergekommen, dass bei den Abrechnungen etwas nicht stimmte. Die Spesen nach gewissen – lokalen! – Einsätzen waren etwas hoch. Genauer gesagt hatte der Jack jedes Mal die Limousine angefordert und die Kosten anschließend eingereicht. Wozu aber ein Schädlingsbekämpfer mit seinem Sortiment an Fliegenpatschen und den Eimern mit den Spraydosen in der Limousine zum Einsatz fahren müsse, das hat der Luke gründlich hinterfragt. Daraufhin hat der Jack erst „Ääääh‟ gestottert und dann gar nichts mehr gesagt. Irgendjemand muss aber gepetzt haben, sonst hätte der Luke nie erfahren, dass die Limousine auch mehrmals in die Kreisstadt geschickt worden war, um dort bei „Sonny & Fred‟ Salami- oder Schinkenpizza zu holen. Außerdem hatte der Jack sich Visitenkarten drucken lassen mit der Aufschrift „Generaldirektor‟. Beides zusammen war dann doch ein bisschen ville. Eigentlich hat der Luke geschäumt vor Wut. Der Jack hat eine Abmahnung bekommen und kriegte die Pizzafahrten von seinem Gehalt abgezogen. Seitdem ruft er nach dem Personalrat, allerdings vergeblich. Bei vier Mitarbeitern müsse er da schon vors Arbeitsgericht ziehen, hat ihm der Luke eiskalt geantwortet und gleich noch allen für das restliche Jahr jegliche Limousinennutzung entzogen. 

Zunächst hat das niemand ernst genommen, weil es ja nur um den Jack ging. Selbst der Lütte Emil war außen vor, da man ihm keine Beteiligung nachweisen konnte. Er selbst hatte keine Spesen eingereicht. Brauchte er ja auch nicht, weil er ja nach wie vor die Polly hat, die mit ihm und dem Lütten Bonaparte an die Ostsee fährt und ihnen dort so viel Pizza kauft, wie sie wollen. Langsam zeigen sich deswegen bereits erste bedenkliche Auswirkungen: Dem Emil wachsen allmählich die Lauscher zu länglichen Dreiecken, oben spitz, unten breit; fehlen nur noch die Kreise und die gelben Sprenkel. Später aber, als es um die Fahrt zu besagter Fête in Celle ging (um Lunas Examen nachzufeiern), musste der Pit feststellen, dass auch er betroffen war – und mit ihm der Karlsson. Mit allen meint der Luke tatsächlich alle. Es gibt keinen Limousinen-Shuttle mehr, damals gab es ihn nicht, jetzt gibt es ihn nicht und auch künftig nicht bis zum 31. Dezember, für niemanden. Natürlich war der Pit angefressen und hat protestiert.
„Dann fahr doch mit der Bahn‟, hat der Luke geantwortet und seelenruhig weiter seinen Magerquark angerührt.

Die Transportfrage wurde dann zum Anlass einer kuriosen Begebenheit zwischen dem Pit und dem Karlsson. Doch ich will nicht vorgreifen, denn erst muss ich erklärend ein wenig Hintergrundwissen beitragen. Leider hängt auch beim Karlsson der Haussegen schief. Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Karlssons Papa ist nämlich neuerdings öfter daheim. Ich glaube, dass es dauerhaft ist. Jedenfalls hat der Papa irgendwann zum Karlsson gesagt, dass man im Alter ein wenig mehr auf sich achten müsse, um fit zu bleiben. Bis dahin war der Gutsherr allenfalls täglich seine Runde übers Anwesen gegangen – mindestens bis zur Obstwiese und zurück –, um nach dem Rechten zu schauen. Nach Aussage vom Karlsson sei dies erstens eines Gutsherrn würdig und zweitens absolut ausreichend an Bewegung. Dem mochte sich der Papa aber nicht anschließen. Von ihm kam der Vorschlag, es einmal mit Golf zu probieren. Der Karlsson war empört:
„Ich und hinter dem bekloppten Ball herrennen, so weit kommt es noch!‟, hat er ins Smartphone gebrüllt.
Ich musste ihn vorsichtig darauf hinweisen, dass er vielleicht etwas missverstanden hatte:
„Golf ist ein anerkannter Altherrensport, schweiß- und gelenkschonend. Vielleicht sollst du gar nicht deinem Papa die Bälle zurückholen, sondern du sollst selbst auf den Ball einschlagen.‟
Hm, daran hatte er nicht gedacht. Aber egal, so oder so, er sei doch kein Rasenmasseur, auch kein Besenschwinger. Auf gar keinen Fall. Darauf werde er nie und nimmer eingehen.

Wenn er jetzt aber gedacht hatte, damit sei das Thema vom Tisch, hatte er sich geirrt. Nun wurde es erst recht schlimm. Im Herrenzimmer hat der Papa einen Basketballkorb aufgestellt. Natürlich war er nicht sehr hoch, damit der Karlsson mit der Schnauze den Ball noch gut ins Netz befördern konnte. Aber das Netz war mit einem Zähler und einer kleinen Schütte verbunden. Nach jedem zwanzigsten Korb erklang ein albernes „Yeah!‟, ein Schieber ging auf und ein Frolic purzelte dem Karlsson vor die Füße. Auch hier war der Karlsson fassungslos vor Entsetzen:
„Ich mach mich doch nicht zum Affen wegen eines einzigen Frolics!‟
Er brüllte so laut, dass die Fendy ins Zimmer kam und fragte, ob ich mir Löwen-Videos auf dem Smartphone anschaue.
Mir fiel zuerst nicht recht ein, wie ich ihn trösten könnte. Er zeigte keinerlei Einsicht, dass dem Ganzen sicher nur der Wunsch von seinem Papa nach regelmäßigem sportlichen Anreiz zugrunde lag, geboren aus liebevoller Verantwortung und umgesetzt mit kreativem Esprit.
„Machst du dich lustig über mich?‟, musste ich mir anhören.

Gott sei Dank fiel mir dann etwas Tolles ein. Per Video-Chat hat der Engelbert ihm gezeigt, wie man das Gerät manipulieren konnte. Wenn sich jemand mit Elektronik nicht auskennt, dann ist es der Engelbert. Wir können froh sein, so einen Fachmann in unsern Reihen zu wissen. Zufällig war er auch gerade zu Hause in Duisburg und nicht außerhalb auf Fortbildung. So ist es dem Karlsson mit seiner Hilfe gelungen, erst einmal den Zähler von 20 auf 5 runterzudrehen. Die Frolics kullerten jetzt wesentlich häufiger auf den Boden. Anschließend wurde der Sensor am Netz geändert, so dass nicht erst der Ball durchrauschen musste, sondern ein leichtes Antippen genügte, um die Belohnung auszuschütten. Mir hat es sehr gefallen, dass der Karlsson augenblicklich wieder seine gute Laune zurückgewonnen hatte. Im Grunde ist er ja ein bescheidener Kerl, der nicht viel braucht, um glücklich zu sein.

Leider haben sich kurz darauf kleine Nebenwirkungen eingestellt, eigentlich nicht der Rede wert. Ich weiß nicht, wie, woher und wieso, jedenfalls ist aus dem Basketballdings plötzlich Olivenöl geplörrt, einfach unten aus der Schütte heraus. Zunächst unbemerkt hat sich der Perserteppich im Herrenzimmer damit vollgesogen. Dann ist der Papa vorbeigekommen mit einem Glas Rotwein, um gemütlich einer Miles-Davis-Platte zu lauschen, und ist auf dem Parkett ausgerutscht. Dabei hat der Rotwein erst die Clockone geküsst und dann noch das Sofa, den Teppich und die Hälfte der Encyplopedia Britannica mitgenommen. Von Papas körperlichen Schäden ganz zu schweigen. Seine Lieblingshose ist hin und seine Toleranz ebenfalls. Der Karlsson hat nun kein Geld mehr. Sein Taschengeld wurde gestrichen, bis die Reparaturen bezahlt sind. Das war echt misslich, weil er doch unbedingt zur Fête nach Celle kommen wollte. Doch wie ohne Fahrkarte? Seht ihr, hier schließt sich der Kreis.

Unter normalen Umständen wäre es ja kein Problem gewesen, sich von Lukes Firmenlimousine abholen zu lassen. Doch die stand uns ja bekanntlich nicht zur Verfügung. Auch die Einkünfte aus dem Fellverkauf hätten eigentlich aus der Patsche helfen können, wenn der Karlsson dummerweise nicht kurz vorher das Geld an mich transferiert hätte, da ich doch die Reisekasse verwalte. Ihm das Geld zurückzuschicken, damit er sich eine Zugfahrkarte kaufen könnte, das ging leider auch nicht, weil der Papa ihm zudem das Smartphone abgenommen und alle Laptops zu Hause mit einem Kennwort gesperrt hatte. Der war echt sauer, der Papa. Ohne Not kommt niemand auf solch monströse Ideen.

Hier bewahre ich unsere Kohle auf
 
 
Kurzzeitig hatte ich mit dem Pit überlegt, den Engelbert in Regress zu nehmen, ihn zu verdonnern, auf eigene Kosten zum Karlsson zu fahren und ihn nach Celle zu bringen, doch das mussten wir verwerfen, da uns der Engelbert versicherte, absolut fachmännisch beraten zu haben. Er könne schließlich nichts dafür, wenn Stümper nicht wüssten, wie sie seine Anweisungen umzusetzen hätten. In diesem Fall war es ein Segen, dass der Karlsson nichts mitkriegte von der Titulierung Stümper, sonst wären ihm wahrscheinlich die Locken alle gleichzeitig ausgegangen, so sehr hätte er sich aufgeregt. Seit er nicht mehr ganz jung ist, steht es mit seinen Nerven nicht immer zum Besten.
 
Ihr seht, es gestaltete sich schwierig, den Karlsson nach Celle zu kriegen. Zeitweise weilte er kommunikationstechnisch auf dem Mars. Er war weg vom Fenster. Nun könnte ich jetzt endlich erzählen, wie der Pit und der Karlsson das Problem angegangen sind, doch ich muss euch noch mal auf später vertrösten, damit ich erst berichten kann, was bei den andern inzwischen noch alles geschehen ist. Sie sind es wert, dass man sie nicht vergisst.
 
In Duisburg hat die Cora ein neues Familienmitglied bekommen. Es handelt sich um ein Menschlein. Es heißt Enkelin. So kleine Humanoiden sind für uns Vögel ja immer ziemlich anstrengend. Erst schreien sie einem durchdringend die Ohren voll, dann grabschen sie nach uns und ziehen uns am Schwanz. Erst wenn sie schon laufen können und noch ein bisschen älter sind, werden sie gut brauchbar. Man kann ihnen dann schon kleine Aufträge erteilen, Leckerlis holen zum Beispiel oder den verschütteten Saft aufwischen. Nur den Schlüssel fürs Barfach, den kriegen sie meist nicht ausgehändigt, aber die Cora kann sich ihren Aperol Spritz am Nachmittag auch woanders besorgen. Sie ist ja viel unterwegs, Backrezepte austauschen oder im Zoo als ehrenamtlicher Kummerkasten. Die Fendy kann so was überhaupt nicht verstehen. Sie käme nie auf den Gedanken, sich von wildfremden Leuten mit deren Wünschen und Sorgen volllabern zu lassen. Doch die Cora schwärmt davon. Man komme viel rum und erfahre die intimsten Dinge.
„Das ist wie „Gazette der Frau‟, nur in live.‟
Nun ja, die Cora war schon immer recht mütterlich.

Große Probleme macht derzeit der Paule, der alte Schwerenöter. Mit wem er gerade zusammen ist, kann ich gar nicht sagen. Das wechselt ja öfter. Neulich war's noch eine gewisse Melusine, eine Haubenmeise aus Düsseldorf. Der Cora und ihrer Familie war irgendwann aufgefallen, dass sich der Paule neuerdings ungewohnt elitär gab. Er trug eine dicke Goldkette um den Hals, obwohl er früher nie Schmuck getragen hatte, und eine maßgefertigte Rolex mit Brillanten um den Knöchel. Auf seinem Brettchen in der Voliere stehen jetzt Aftershaves mit Namen wie „Playboy, Badboy‟ von Ernest Yard und „Evil Danger‟ von Konstantin de la Gondola („Total teuer‟, sagt die Fendy). Er besitzt ein neues Smartphone, ein neues Tablet mit diversen kostenpflichtigen Streaming-Programmen und geht mindestens einmal wöchentlich auswärts essen. Danach riecht er nach Knoblauch und nach Whisky. Mit andern Worten: Er schwimmt in Geld. Keiner weiß, woher es kommt. Die Cora hat das mal näher untersucht. Heimlich hat sie ihn überwacht und ist auch mal hinter ihm hergegangen. Dabei stellte sich heraus, dass der Paule online Frauen abzog. Dafür gibt’s sogar einen speziellen Begriff, weil das wohl öfter vorkommt im Netz. Dabei schreiben irgendwelche Männer, die meist im Ausland sitzen, kontaktwillige Frauen an, sülzen sie voll mit Komplimenten und geben vor, sich wahnsinnig für sie zu interessieren und sich unsterblich in sie verliebt zu haben. Wenn die Frauen dann denken, sie seien in einer Beziehung mit ihm, kommt der Typ plötzlich mit einer Geschichte um die Ecke, warum er unverschuldet in Not geraten sei, und die Frau soll ihm dann Geld schicken, um ihn zu retten. Natürlich kriegt die Frau die Kohle nie wieder zurück. Sie denkt die ganze Zeit, sie investiert in die gemeinsam Zukunft. Bilder und Videos werden aus dem Netz geklaut und als die eigenen ausgegeben.

Poh, das war 'ne echte Überraschung, als die Cora das erzählte. Niemand hätte gedacht, dass der Paule so weit gehen würde. Ein bisschen windig war er ja schon immer, aber das jetzt? Drei Profile hatte er sich angelegt und zu jedem eine Henne am Laufen, die ihm dauernd Geld überwies. Mal gab er sich als Chirurg aus (San Diego), mal als Goldhändler aus Kapstadt und mal als Bankdirektor aus Kuala Lumpur. Er nannte sich Henry Waterman, Chris Monrovia oder Jean-Luc Forélle und sei wahlweise mal ein Seeadler, ein Hyazinthara oder ein Bengaltiger. Die Kommunikation erledigte er nachmittags auf der Parkbank oder, als es noch kälter war, von der Stadtbücherei aus, damit ihm zu Hause niemand auf die Schliche käme. Junge, Junge, das war ja ein starkes Stück. Da konnte ich gut verstehen, dass Coras Familie sofort die Reißleine gezogen hat. Der Paule kam wieder ins Knallenbirnenheim. Dort sollte er mit körperlicher Ertüchtigung und Gesprächstherapie auf den richtigen Weg zurückgeführt werden. Allerdings behauptet der Paule noch heute steif und fest, dass sich alles ganz anders zugetragen habe. Die drei Hennen habe er nie um Geld gebeten. Die Halskette und die Rolex seien Modeschmuck und die Elektronik habe er von seinem Taschengeld gekauft. Die Kosmetiksachen stammten von seiner Nebentätigkeit als Frisörmodell für angehende Hairdesigner und die Abendessen von seinem Job als Foodtester. Nur das mit den Alias-Namen, den falschen Bildern und den falschen Berufsbezeichnungen, das stimme, aber nur, weil er mal ein wenig Abwechslung gebraucht habe, da Paule, Amazone aus Duisburg, eben nicht so prickelnd klinge wie Chris, Goldhändler aus Kapstadt.
 
Und was stimmte nun? Ich meine, jeder Delinquent behauptet doch, er sei unschuldig, oder nicht? Wir alle hatten viele bange Tage bei der Frage, ob wir uns die ganze Zeit so getäuscht haben konnten. Schließlich ist der Paule mit uns auf Reisen gegangen und bei manchen Feiern dabei gewesen. Da denkt man doch, man kennt jemanden ziemlich gut. 
 
Okay, ich löse auf: Es kann Entwarnung gegeben werden. Der Paule hat tatsächlich die Wahrheit gesagt. Den Schmuck hat die Cora zum Juwelier gebracht zum Schätzen. Es handelt sich, wie behauptet, um Talmi. Auch seine Brieffreundinnen, die jeweils streng von der Cora verhört worden sind, haben bestätigt, dass sie nie Geld geschickt haben. Allerdings wollen Melinda aus Bad Bramstedt, Hildegard aus Magdeburg und Kessy aus Lingen im Emsland jetzt nichts mehr vom Paule wissen. Sie seien enttäuscht von ihm. Kann man ja verstehen, wenn man die ganze Zeit dachte, ein Bengaltiger werde einem demnächst durchs eigene Bankhaus führen, und dann hat man plötzlich einen alternden Gelbscheitelgockel vor sich, der in der Zimmervoliere wohnt und es beruflich nicht weit gebracht hat. Da wäre ich auch angefressen.

Trotz der Erleichterung allerorten hat die Episode ein Nachspiel. Der Paule macht Schadensersatz geltend. Für die psychische Belastung durch die falschen Anschuldigungen und das Ausspionieren verlangt er von der Cora eine Geldsumme, deren Höhe ich hier nicht nennen möchte. Für den Aufenthalt im Knallbirnenheim dagegen verlangt er nichts, da er dort eine gewisse Sylvie aus Donaueschingen kennengelernt hat, mit der er nun ausgiebig kommuniziert. Wir in der Reisegruppe sind noch nicht dazu gekommen, darüber zu diskutieren, ob wir der Cora eine Finanzspritze aus der Reisekasse genehmigen sollten. Man kann sie doch jetzt nicht allein lassen, wo sie doch nur sozial gehandelt hat für ein sauberes Miteinanders ohne Ausbeutung. Solche Hennen brauchst es mehr in der Welt.

Gegen eine derartige Dramatik ging es bei uns in Hannover vergleichsweise harmlos zu. Wie bereits an anderer Stelle kurz angesprochen, hat die Fendy jetzt einen Freund. Eines Tages kam sie mit dieser Ente angedackelt. Er stand bei uns im Flur mit seinen schmatzenden Flatschen und behauptete, er heiße Mörßel. Geboren und aufgewachsen sei er in Leipzig, lebe aber jetzt in Hannover, da sein Onkel hier einen touristischen Ententeich mit ausländischen Leiharbeitern unterhalte. Wir würden uns ja keine Vorstellung machen, wie schwer es sei, ausreichend gutes Fachpersonal zu gewinnen. Viele Ententeiche seien nur noch unzureichend bestückt und dazu mit Leuten, die nicht mal mehr acht Stunden herumschwimmen wollten, sondern Homeoffice verlangten und Zusatzurlaub, oder es nicht mehr hinkriegten, ordnungsgemäß Brotgaben von Passanten anzunehmen. Schlimm sei das, absolut schlimm. Aber jetzt sei er ja hier, um mal ordentlich aufzuräumen. Dabei lehnte die Fendy mit dem Kopf an seinem Bein und hauchte verliebt:
„Ja, das wirst du tun, mein Adonis.‟

Mörßel


Nee, halt. Das da oben ist der Engelbert. DAS hier ist der Mörßel

Boah, rette sich, wer kann. Das ist ja nicht zum Aushalten, das Geturtele. Schatzi hier, Hasi da. Abends hocken sie gemeinsam auf dem Sofa und gucken fern. Natürlich kommt der Kerl dauernd zu uns, weil es der Fendy am Teich viel zu nass ist. Wenn er dann die Tüte mit den frittierten Was-weiß-ich-für-Würmern auspackt und knackend reinbeißt, als wären es Chips, kriege ich Zustände. Die Fendy scheint das nicht zu stören. Sie hat ihm das Eau de Toilette „Aqua experience‟ von Melvin Kline geschenkt. Immerhin hat das Operngesinge aufgehört – erfreulich. Beruflich möchte sind die Fendy nun als Influencerin etablieren. Sie fühlt sich berufen, ihren Mitschwestern Beziehungstipps zu geben, da sie jetzt, nach 25 Jahren glücklicher Ehe, zu einer Expertin herangewachsen ist. Momentan spart sie noch für einen anständigen Scheinwerfer. Der Spot vor der Wand, wo sie künftig stehen will, um ihre Videos abzudrehen, ist bereits ausgesucht, allerdings überlegt sie noch, welches Farbschema der Behang haben soll, mit dem sie unsere schnöde Raufasertapete abhängen will. Wenn auch der Rest mit dem gleichen Tempo vonstatten geht, dürfen wir uns freuen, dass das Projekt Influencerin nie Realität geworden ist.

Über mich gibt es nicht viel zu berichten. Inzwischen habe ich viele Cocktail-Bücher gelesen. Ich habe jetzt etliche neue Drinks drauf und werde demnächst an meinem ersten Wettbewerb teilnehmen. Mehr möchte ich nicht verraten. Ich war schon immer ein stiller Charakter. Schwafeln liegt mir nicht.

So, nun kommen wir aber endlich zu besagter Fête. Sie fand kurz nach Ostern statt. Wir waren alle nach Celle eingeladen, um Lunas Examen nachzufeiern. Leider konnten nicht alle kommen, der Engelbert zum Beispiel (Fortbildung), der Paule, weil er ja im Knallbirnenheim saß, und – Gott sei Dank – der Mörßel nicht, weil er an dem Tag Wochenenddienst hatte. Auch der Jack war verhindert (siehe oben). Der Luke wollte nicht kommen und die Pferdedamen wussten nicht, wie sie anreisen sollten.
Das Wochenende zuvor war die Polly mit dem Emil, dem Bonaparte und dem Erik mit den Flying Hoppers auf ein Agility-Turnier irgendwo in Sachsen-Anhalt gefahren. Dazu hatte sich die Polly kurzfristig entschlossen, nicht nur um die Flying Hoppers anzufeuern, sondern vor allem, um dem Micky Bonaparte das Agility schmackhaft zu machen. Er ist doch ein Border Collie und von denen geht das Gerücht, dass sie es toll finden, wie Bekloppte über einen Parcours zu wetzen. Ich kann aus zuverlässiger Quelle berichten, dass der Lütte Bonaparte nicht dazu gehört. Stattdessen hat er gelangweilt herumgelegen. Später ist er spazieren gegangen. Er kam wieder mit etlichen Cola-Dosen, einer halben Pizza und drei Stücken Apfelkuchen, noch auf dem Tablett. Wahrscheinlich liegt ihm mehr das Handwerkliche. Warum auch nicht? Man wird beobachten müssen, an welcher Stelle noch Förderbedarf besteht. Kuno aus Boye, der beste Rammler im Stall, hat übrigens den ersten Platz in der Kategorie „Kurzstrecke‟ gemacht. Herzlichen Glückwunsch. 
 
Immer recht freundlich, selbst wenn einem eigentlich die Zunge raushängt
 
 
Ich bin an dem Samstagabend mit der Fendy und der Cora, die bei uns übernachtet hatte, mit der S-Bahn nach Celle gefahren. Die Polly mit dem Emil und dem Bonaparte war schon da (ebenfalls angereist per Bahn). Auch die Flying Hoppers und der Erik wuselten da schon herum. Das ganze Wohnzimmer war bunt geschmückt mit Luftballons, Luftschlangen und Girlanden. Auf dem Esstisch thronte ein imposantes Büfett. Uiuiui, da hatte sich die Family aber ordentlich ins Zeug gelegt. Die Platten mit dem Fleisch und dem Fisch hatte ein Catering-Service gebracht, die vielen Schüsseln mit Gemüse, Obst, Keksen, Chips, Pudding, Dips und die Tabletts mit dem Kuchen hatte die Family selbst angerichtet. Die Mitte des Zimmers war freigeräumt worden zum Tanzen. Eine Anlage für Musik war vorhanden und auch mir hatte man ein separates Tischchen für meine Utensilien hingestellt. Ich sollte den Barkeeper machen.
„Aber nicht so harte Sachen, hörst du?‟, hat mich die Chefin ermahnt.
 
Die Hexenküche konnte beginnen

 
Dann ist die gesamte Family aus dem Haus gegangen. Wir waren allein. Gut so. Erst mal ordentlich lüften, den Menschengeruch rauskriegen. Die Luna hat die Fenster aufgerissen. Nachdem das erledigt war, kriegte ich den Auftrag, für alle Sekt einzuschenken. Wir mussten doch noch auf unsere Heldin anstoßen. Sie ist jetzt eine waschechte, richtige Reise... wie nennt sich das noch?
„Touristic and Travel Agent. Mit Diplom‟, hat die Cora geantwortet.
Ja, richtig. Wir ließen die Gläser klingen. Hoch, hoch, hoch. Sie lebe hoch. Die Luna war bester Laune. Sie dankte mit perlender Stimme und informierte bei der Gelegenheit auch gleich all jene, die vielleicht noch nicht wussten, wo sie beruflich augenblicklich steht:
„Ich arbeite für eine Reisegesellschaft in Barcelona. Nur vorübergehend natürlich. Von hier aus. Ich stelle neue Pauschalreisen zusammen. Dazu muss ich Hotels antelefonieren, Preise aushandeln und all so was. Ganz schön anstrengend manchmal, aber das Spanische liegt mir ja.‟ 

Zu Ostern hat sie außerdem wieder für den Osterhasen gearbeitet, Eier versteckt und im Vorfeld bei den Ablageplänen geholfen. Die Kohle nimmt man ja gern mit, wenn's direkt vor der Haustür liegt, nicht wahr? Dafür ist der Erik wieder am Ostermontag ausgerückt, selbstverständlich ehrenamtlich. Er hat mit seiner Truppe die Eier wieder eingesammelt, die vergessen worden waren. Man kann solche selbstlosen Dienste nicht hoch genug schätzen. Viele Menschenkinder sind ja so was von schusselig. Die Gören sehen so schlecht heutzutage, dass sie selbst einen Hydranten in der Wüste übersehen würden. Kommt alles vom ewigen Glotzen aufs Smartphone. Da ist es gut, dass sich solche Leute wie der Erik darum kümmern, dass hinter ihnen ordentlich aufgeräumt wird. 
 
„Aber eigentlich habe ich beruflich anderes vor‟, hat die Luna vielsagend hinzugefügt.
So? Was denn?
„Ich möchte eine eigene Reisegesellschaft gründen. Ich will mich auf gehandikapte Tiere konzentrieren, damit die auch mal anständig verreisen können.‟
Dabei schaute sie erwartungsvoll in die Runde. Alles nickte bewundernd, nur der Pit zog die Augenbrauen zusammen: Was sie denn damit meine – gehandikapt.
„Na, alle Tiere, die auf die eine oder andere Weise eingeschränkt sind und die daher ein maßgeschneidertes Reiseangebot brauchen.‟
Damit schien der Pit aber noch nicht zufrieden:
„Auf die eine oder andere Weise eingeschränkt ... Trifft das nicht auf jeden zu?‟
„Wieso?‟
„Na, ein Dackel kann keinen Blindenhund geben, weil er zu klein ist. Aber ein Schäferhund kann nicht in einen Bau kriechen und einen Dachs raustreiben, weil er zu groß ist.‟
Hm, das gab der Luna zu denken. Das hatte sie offenbar nicht auf dem Schirm gehabt. Ihr war vermutlich so was wie stumme Fische und motorisch eingeschränkte Schnecken in den Sinn gekommen. Jetzt schien sie irritiert zu sein. Ist ja auch blöd, wenn einem ausgerechnet auf der eigenen Fête die berufliche Vision in den Staub getrampelt wird. Sogleich kam die Fendy angerannt, um der Luna tröstend einen Flügel gegen die Hüfte zu patschen.
„Nee, lasst man‟, hat sich die Luna aber aufgerappelt. „Der Pit hat ganz recht. Im Grunde ist es eine Frage der Formulierung. Ich muss ein sprachliches Konzept finden, damit jeder auf Anhieb weiß, was gemeint ist, aber sich keiner auf den Schlips getreten fühlt. Dazu ist später noch genug Zeit, um darüber nachzudenken. Jetzt wollen wir erst mal feiern.‟

Reichlich gesund für 'ne Party, aber lecker
 
 
Wir haben dann ziemlich schnell das Büfett geentert und anschließend die Musik aufgedreht. Der Bonaparte hat mit der Polly den ersten Tanz hingelegt. Danach hat der Emil die Cora auf die Tanzfläche geführt. Ich hatte gut zu tun mit den Cocktails. Die Wünsche rauschten nur so rein. Besonders die Flying Hoppers erwiesen sich als experimentierfreudige Trinker. Sie waren ja die Einzigen in der Runde, die meine Mixkünste noch nicht kannten. Zwei Kaninchendamen mussten bald darauf auf den Balkon gebracht werden zum Ausdünsten. Das kommt davon, wenn man dauernd Sport macht; man kann nichts mehr ab.

Irgendwann war die Raummitte nur noch ein einziges ruckendes Gehampel. Alles tanzte. Wir grölten jetzt die alten Hits wie „Da da da‟ und „Mendocino‟. Am Rande hockte der Lütte Bonaparte und knipste dazu die Spots an und wieder aus, die blau, gelb, grün und rot leuchteten und die er soeben entdeckt hatte. Eine Diskokugel hatte die Family nämlich nicht extra anschaffen wollen, so waren kurzerhand die Schreibtischlampen hingestellt und mit farbigen Glühbirnen versehen worden. Uns störte das nicht. Wir hatten einen Mordspaß. 
 
Zu vorgerückter Stunde war die Deko schon etwas ausgefranst


Gegen Mitternacht haben die Polly und der Erik noch mal ein paar Sachen vom Büfett in die Mikrowelle geschoben. Es war noch reichlich Fleisch da. Nanu? Sollten sie sich so sehr verschätzt haben mit der Menge? Früher ist doch auch jede Frikadelle und jedes Würstchen weggegangen. Die Sprache kam auf den Karlsson. Diesbezüglich war er doch immer sehr zuverlässig gewesen. Wo steckte er überhaupt? Der Erik und ich haben alles abgesucht, das ganze Haus von oben bis unten. Im Garten waren wir auch, haben mit der Taschenlampe hinter jeden Busch geleuchtet, ob er vielleicht dort lag, abgestürzt vom „Sex on the Beach‟. Aber vom Karlsson keine Spur. Dann fiel es mir siedend heiß ein: Hatte er nicht mit dem Pit gewettet, wer zuerst in Celle ankäme? Der Gewinner sollte den nächsten Herrenabend organisieren dürfen. Wenn ich's mir jetzt genau überlegte, hatte ich den Karlsson tatsächlich den ganzen Abend noch nicht gesehen. Der Erik nickte zustimmend: Nein, am Büfett hatte sich niemand mit hellen Locken über die Steaks hergemacht; das wüsste er sonst. 

Oh-ha. Das war jetzt misslich. Dem Karlsson wird doch wohl nichts passiert sein? Ich wusste nur so viel: Da der Luke die Limousine gesperrt hatte und der Karlsson nicht mit der Bahn fahren konnte, hatte der Pit vorgeschlagen, dass sich der Karlsson per Anhalter auf den Weg nach Celle machen sollte. Aus Solidarität würde der Pit es ihm gleich tun. Identische Bedingungen für beide. Wer zuerst in Celle auf der Fête ankäme, hätte, wie gesagt, gewonnen. Diesen Vorschlag hatte der Pit an die Polly gesendet und die hatte es dem Karlsson ausgerichtet, als sie vom Agility-Wettbewerb nach Hause zurückgekehrt war. Ihrer Aussage nach sei der Karlsson mit der Challenge einverstanden gewesen. Allerdings habe sie nicht mitgekriegt, ob und wann er heute das Haus verlassen habe, um sich an die Autobahnauffahrt zu stellen. Sie selbst war mit den beiden Lütten vom Pferdehof aufgebrochen. Nachfragen konnten wir nicht, da der Papa ja das Smartphone eingezogen hatten und auch sonst für den Karlsson kein Zugang zu den häuslichen Laptops bestand.
 
Hui, was für'n Elan

 
Allmählich machten wir uns Sorgen. Müssten wir die Polizei anrufen? Interpol? Den Grenzschutz? Vom Erik kam der Vorschlag, dass er ihm mit dem Pött-pött-pött entgegenfährt, aber das hätte ja ewig gedauert mit 60 über die Landstraße. Nun war es schon Mitternacht und noch immer kein Lebenszeichen vom Karlsson. Den andern mochten wir nichts erzählen von unserer Entdeckung, damit wir vor allem der Luna nicht den Spaß verdürben. Nur den Pit haben wir unauffällig beiseite genommen. Er sollte noch mal ganz genau schildern, wann er heute aufgebrochen war und wie er Celle erreicht hatte. 

„Tja, ich bin doch nicht doof‟, hat er geprahlt. „Ich weiß doch, dass Autofahrer Katzen nicht gern mitnehmen. Ich bin zwar nicht schwarz, denn die kommen gar nicht vom Fleck, aber auch ich muss mir was einfallen lassen.‟
Die Rede war von Katzenzungen und von ganzen Paletten Prosecco, die er gut sichtbar um sich herum aufgebaut hatte, um die Autofahrer anzulocken und zum Anhalten zu animieren.
„Glaubt mir‟, hat der Pit versichert. „Das klappt immer. Menschen sind ja sooooo gierig. Wenn man sie ködert mit was Ess- und Trinkbarem, hält jeder an.‟
Folglich hat der Pit auch nicht lange an der Straße gestanden. Zwar ist er nur etappenweise vorangekommen, aber Dank der Schokolade und der Sprudelplörre hat der Anschluss jedes Mal problemlos geklappt. Außerdem wurde es mit jeder Station weniger, was er ins Auto laden musste. Am Ende waren alle Katzenzungen und der Prosecco weg, alles verteilt. Voilá, und nun stand er hier.
„Vielleicht wusste der Karlsson nicht, dass man beim Trampen strategisch vorgehen muss‟, hat er noch gemeint.
 
Ja, das kann gut sein. Was machen wir aber bloß? Weg ist weg, egal warum. Bei mir wollte sich keine ausgelassene Stimmung mehr einstellen. Ich habe nach wie vor meine Pflicht getan und Cocktails gemixt, doch ohne recht bei der Sache zu sein. Dabei musste ich dauernd zur Tür gucken, ob der Karlsson nicht plötzlich hereinkäme. Auch der Pit und der Erik beobachteten die Tür unauffällig. Bei den andern waren inzwischen die ersten Schnapsleichen zu beklagen. Sie lagen nebenan auf einer Decke und schnarchten. Selig sind die Unwissenden. Nach und nach wurde es ruhiger. Statt der Trampelmusik hatte die Cora jetzt Balladen aufgelegt.
„Hach, wenn jetzt der Mörßel hier wäre‟, hat die Fendy geseufzt. 
 
Die beiden Lütten waren hinter der Tischdecke unterm Büfett eingeschlafen. Die Luna brachte die Meerrettichcreme in den Kühlschrank. Die Polly half ihr dabei. Gegen drei Uhr standen nur noch wir drei aufrecht: der Pit, der Erik und ich. Vom Karlsson noch immer keine Spur. War es jetzt so weit, die Bergwacht und das Technische Hilfswerk anzufordern? Ich weiß nicht, wie die Diskussion ausging. Ich muss darüber eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, lag ich hinter meinem Shaker, eingeklemmt zwischen Pits Hintern und Eriks Bauch. Draußen war es noch nicht ganz hell. Ich meinte aber schon die ersten Gartenvögel singen zu hören: Flupp … flupp … flupp. Komische Melodie. Na, wer weiß, welche degenerierten Kreaturen in Celle nachts herumlaufen. Später fiel mir auf, dass es sich gar nicht um Vogelgesang handeln könnte, sondern um was Weiches, das gegen die Fensterscheibe vom Wohnzimmer geworfen wurde. Ich schreckte auf. Und tatsächlich: dicke, braune Flecken liefen die Scheibe herunter. Es war Matsch. Unten stand was Helles. In der Dämmerung sah es aus wie ein verirrtes Minischaf, das mit den Vorderbeinen auf dem Mäuerchen stand und nach oben guckte. Fast hätte ich einen Schrei losgelassen.
 
„Karlsson? Bist du das?‟, habe ich so leise wie möglich gebrüllt.
„Ja. Mach auf‟, kam es zurück. „ Ich friere mir den Arsch ab.‟
Natürlich bin ich gleich zum Pit und zum Erik gelaufen. Gemeinsam haben wir die Haustür aufgeschlossen. Ein eisiger Wind wehte herein. Nach endlosen Minuten kam der Karlsson angeschlichen. Dass er dreckige Füße hatte und den ganzen Matsch vom Garten ins Haus schleppte, war uns egal. Hauptsache, wir hatten unsern Freund wieder.
„Dass du wieder da bist!‟, hat der Pit gesagt mit Tränen in den Augen.
„Wo warst du denn so lange?‟, habe ich gefragt.
„Erst mal was essen, Leute. Ich bin am Verhungern‟, hat er abgewinkt.

Wir haben dem Karlsson in der Küche ein paar Scheiben Rinderbraten warm gemacht. Die andern schliefen noch, keiner kriegte was mit. Nachdem er sich gestärkt hatte und wir drei ihm schweigend dabei zugesehen hatten, rülpste er einmal kräftig und seufzte:
„Keiner will Hunde mitnehmen. Ich sei ja nur ein alter Streuner, hat eine Frau gesagt. Eine andere hat behauptet, dass ich nach Whisky miefe.‟
„Echt?‟
„Na ja, ich hatte eine Flasche dabei. Als Gastgeschenk. Aus dem Herrenzimmer. Ich hab sie aufgemacht, als ich um 21.00 Uhr immer noch bei Stade herumsaß.‟
Er schaute betrübt. Dann hob er den Kopf und blickte lange den Pit an.
„Du hast die Wette gewonnen, mein Freund. Du warst besser als ich.‟
Zur Antwort lächelte der Pit gütig. 
Und zum Erik gewandt:
„Stimmt es, dass du uns nach Monte Carlo einlädst?‟
„Öhm‟, hat der Erik geschnauft. „Ehrlich gesagt, die Luna hat mich auf die Lüneburger Heide runtergehandelt. Ich weiß nicht, ob sich Widerstand lohnt. Ich meine, ich bin doch Ehemann, ich hab doch schlechte Karten.‟
Alles nickte mitfühlend. Wir glaubten zu wissen, um was es ging, obwohl keiner von uns dreien verheiratet ist. Aber manchmal gibt es Situationen, in denen es keiner vielen Worte bedarf, damit jeder Mann aus tiefster Seele um die Wahrheit weiß.

Wir haben noch ein wenig schweigend beisammen gesessen und die Ruhe genossen. Später haben wir Frühstück gemacht: Brötchen aufgebacken, die Reste zusammengetan und neu auf den Platten arrangiert, Milch heiß gemacht, Teewasser aufgesetzt und frische Teller ins Wohnzimmer getragen. Wir waren gerade fertig, als die Ersten reinkamen: der Lütte Bonaparte mit unordentlichem Fell und der Emil mit einem Streifen grüner Luftschlange ums linke Ohr gewickelt. Oh, das sei aber nett, dass wir Frühstück angerichtet hätten:
„Danke, Erik. Danke, Boff. Danke, Karlsson. Danke, Onkel Pit.‟
Ihnen zumindest ist nicht aufgefallen, dass jetzt einer mehr dastand als noch am Abend zuvor. Bald darauf sind auch die andern eingekleckert. Auch ihnen schien es nicht der Rede wert, sich über Karlssons Anwesenheit zu wundern. Wir haben es dabei belassen. Man muss keine neugierigen Elstern wecken. Für die andern hatte der Karlsson mitgefeiert, also wird es auch so gewesen sein. Basta.
„Möchtest du noch eine Frikadelle essen?‟, hat die Luna ihn angestrahlt.
 
Sie ist jetzt eine korrekt und offiziell eingeführte Touristikmanagerin – mit allen notwendigen Stationen. Mit der Fête hatten wir ihr die noch fällige Taufe verpasst. Nun darf sich die Luna nützlich machen. Ein Zaunkönig vom angrenzenden Sportplatz hat schon anfragen lassen, ob es Reisen gebe, wo man Kuckucksfrauen treffen könne. Er wolle endlich mal einer von ihnen Tomaten an den Kopf schmeißen. Bei so vielen Kuckuckskindern, die er schon aufgezogen habe, sei ihm das ein großes Bedürfnis. Geld spiele keine Rolle. 

Fotos: Cora und Paule: © G. H.
           Erik und Luna: © K. R.
           Pit, Luke, Jack, Emil, Micky: © Club der glücklichen Vierbeiner
           Karlsson und Polly:  © Terrierhausen
           Celle, Geldkassette, Ente, Agility, Gläser, Büfett, Deko, Tramper: Pixabay 
© Boff

Kommentare

  1. Leider hatte ich schon vorher befürchtet, dass Karlsson es nicht so drauf hat. Aber er hat auf die Challenge bestanden. Man kennt ihn ja

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    1. Er kneift eben nicht. Und ein guter Verlierer war er auch. Er hat unumwunden eingeräumt, dass du gewonnen hast.

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  2. Liebe Reisegruppe und insbesondere liebe Reisemanagerin*nin Luna, wohin geht denn nun die nächste Reise? Mir bleibt nicht mehr so viel Zeit übrig auf dem blauen Planeten. Herzliche Grüße von Polly

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    1. Ja, Luna, wohin soll die Reise gehen?

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    2. Liebe Polly, da können wir uns ja die Hand reichen. Also lasst uns los reisen, egal wohin.
      Pit

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    3. Hallo Polly,
      wir haben Familienrat gehalten und dann einstimmig beschlossen: Wir laden euch ein nach Monte Carlo. Ja, du hast richtig gelesen. Es kommt so, wie es der Erik gesagt hat. Da staunst du was. Wir haben mit Hilfe von Möhrenschnaps einen Sponsor gefunden. Yeah! Also pack deine Koffer oder noch besser lass sie packen.

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    4. Super, Karlsson, ich und mein tragbarer Medizinkoffer mit integrierter Kühlung sind jederzeit startbereit.

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  3. Eigentlich wollte ich diese blöde Basketball Maschine von dem Enkel vom Papa umprogrammieren lassen, hätte bestimmt geklappt. Aber dann kam dieser Humperdinck dazwischen. Grrrrrr

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    1. Der kann nicht singen. Wäre ja auch noch schöner.

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  4. Alles Gute für deine Gesundheit, mein lieber alter Reisefreund Pit !!

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    1. Danke lieber Freund. Also diese Reise werde ich noch mit machen. Leider auch mit einem Koffer wo meine Medizin drin ist. Ich habe Katzen-Leukämie, nicht heilbar, aber im Moment komme ich mit den Tabletten gut Klar. Ich bin 17 Jahre alt, hatte ein tolles Leben , alles wad jetzt noch kommt ist ein Zuschlag
      PIT

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  5. Und ich trage die ganzen Medikamentenkoffer. Der Emil kann das nicht, der ist klein uns hat keine Kraft.
    Micky Bonaparte

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